Welt am Sonntag / Marktbericht vom 09.02. 2014
Gottfried Oberwinter ist sich sicher. Schon bald wird der Dax bei 20-000 Punkten stehen. Mehr als doppelt so hoch wie heute. Vielleicht noch dieses Jahr. Diese Marke sei der Endpunkt einer unmittelbar bevorstehenden Beschleunigungsphase. Das hat er mathematisch ermittelt. Wie genau, will Oberwinter nicht sagen. „Aber glauben Sie mir: Die Vergangenheit ist die Zukunft.“
Nicht alle Marktbeobachter sind derzeit so optimistisch wie der Endfünfziger, der sich selbst als Börsenexperte im Zweitberuf bezeichnet und nach eigenen Angaben ein knappes Dutzend Kunden betreut. Nach dem Markteinbruch vom Beginn dieses Jahres wächst die Zahl derer, die eine neue schwere Krise am Kapitalmarkt aufziehen sehen, mindestens aber eine starke Abwärtsbewegung wie zum Beispiel 2011. „2014 wird kein Spaziergang“ „Noch vor zwei Wochen waren 10.000 Punkte in aller Munde. Davon kann jetzt keine Rede mehr sein“, sagt Jens Klatt, lnvestmentstratege beim Resealchhaus FXCM. Trotz der Erholung sei jetzt schon klar: Ein Spaziergang werde 2014 für Anleger nicht. Dieser Freitag brachte neue Verunsicherung. Am Vormittag schreckte eine Meldunq aus Karlsruhe die Finanzwelt auf. Das Bundesverfassungsgericht hat Zweifel an der Rechtmäßigkeit des EZB-Anleihenkaufprogramms geäußert, an einer jener Maßnahmen, die die Eurokrise 2012 und 2013
eindämmten. Manche Ökonomen sehen daher die Turbulenzen an den südeuropäischen Märkten zuruckkehren. Die sind heute noch höher verschuldet als in den Chaos-Jahren 2009 und 2012 und brauchen weiter Unterstützung durch die Zentralbank.
Rätselhafter Absturz
So steht Spanien zum Beispiel mit einer Quote von 93 Prozent der Wirtschaftsleistung (BlP) in der Kreide, verglichen mit rund 40 Prozent im Jahr 2008. Griechenlands Verbindlichkeiten türmen sich auf 170 Prozent des BlP, verglichen mit 113% zu Beginn der Schuldenkrise.
Schon vor diesem Freitag war 2014 nicht arm an unangenehmen Überraschungen. Aufgeschreckt hat die Börsianer vor allem der Absturz der Emerginq-Markets-Währunqen
Noch sind sich die Experten nicht einig, was genau sich hinter der Schwäche verbirgt und wie es in Schwellenländern wie Russland, Brasilien und der Türkei weitergeht.
Nötige Korrektur von überbewertungen
Fest steht jedoch: Der Einbruch an den dortigen Märkten verheißt nichts Gutes für die deutsche Börse. Im Jahr 1998 brach der Dax um 38 Prozent ein, als eine Währungskrise die zuvor frenetisch gewachsenen asiatischen Volkswirtschaften erschütterte. Normalerweise bleiben die Prognosen der großen Institute trotz solcher Erschütterungen lange auf Autokorrektur. Wie 1998 oder auch 2008 zeigen, fällt es den Ökonomen schwer, sich auf neue Szenarien einzustellen.
Selbst innerhalb einer Bank sind sich die Auguren manchmal nicht einig, wie gefährlich die Verwerfungen in den jungen Industrienationen für uns werden können. Es ist, als würden die dunkle und die helle Seite der Macht um die Experten ringen, wie bei Luke Skywalker, dem jugendlichen Helden von „Star Wars‘.
Die helle Seite repräsentiert Kit Juckes. Der Devisenexperte der französischen Société Generale betrachtet die Abwertungen als nötige Korrektur von in den vergangenen Jahren aufgebauten Überbewertungen: „In großen Teilen der Emerging Markets kostet es heute genauso viel wie in London, einen Kaffee oder ein Bier zu bestellen.“ Der Dollar ist wieder zurück im Spiel Überhöhte Wechselkurse hätten viele Schwellenländer ihre Konkurrenzfähigkeit gekostet. Dadurch sei es aber nicht mehr attraktiv, dort investiert zu sein. Zeitgleich habe der Zinsanstieg in den USA den Dollar wieder ins Spiel gebracht.
Eine Korrektur der aufgeblähten Wechselkurse sei zwar unvermeidlich. „Sie muss aber nicht zu einer breit angelegten AKienmarktschwäche führen.“ Ganz anderer Meinung ist sein Kollege Albert Edwards, der an der Börse für die dunkle Seite steht. Der bekannte Aktienpessimist, der ebenfalls für die Société Generale arbeitet, schildert das, was Anleger erwartet, mit drastischen Worten: „Die Märkte sind gerade dabei, aus einem Traum zu erwachen, von dem sie hofften, er würde ewig dauern.“
Aus dem Traum wird ein Albtraum
Bald würden sie jedoch erkennen, dass sich der Traum in einen „Albtraum wie ein Freddy-Krueger-Horrorfilm“ verwandelt. Die nächste Phase des Bärenmarkts werde die
Aktienbewertungen auf Niveaus zurückwerfen wie seit einer Generation nicht mehr. Ob man den dunklen Prophezeiungen des Dauerpessimisten nun glaubt oder nicht:
Zumindest in einer Hinsicht haben die Warnungen eine sehr reale Basis- Während die Aktienkurse vergangenes Jahr nahezu explodiert sind, blieben die Gewinne der
Untemehmen zurück. In der weltgrößten Volkswirtschaft USA wuchsen die durchschnittlichen Erträge nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich, bei den Dax-Firmen gingen sie zuruck.
Die Börse giert nach Wachstum
Stagnierende Unternehmensgewinne aber sind ein Menetekel für den Aktienmarkt, an dem alles auf Wachstum angelegt ist. „Dass die Krise in den Emerging Markets begonnen hat, liegt nur daran, dass die das schwächste Glied in der Kette sind“, sagt Edwards. Nicht alle sehen so schwarz wie der „Permabär‘ aus London. Ja, es stimme, dass die Gewinnentwicklung 2013 unterdurchschnittlich gewesen sei, sagt Ulrich Stephan, der Chefanlagestratege der Deutschen Bank. Aber das werde sich 2014 ändern „Dieses Jahr wird die Weltwirtschaft um mehr als 3,5 Prozent wachsen, und wenn die Wirtschaft wächst, werden auch die Gewinne folgen.“
Wenig erbauliche US-Wirtschaftsdaten
Die von Edwards und anderen beschworene Schwäche der jüngsten Konjunkturdaten – unter anderem waren die Auftragseingänge der US-lndustrie überraschend schwach – ficht Stephan nicht an. „Daran kann der harte Winter in Amerika schuld gewesen sein. Jedenfalls nichts, was unser Szenario ändert.“ Auch das Kursniveau beunruhigt ihn nicht. „Man darf den Blick nicht nur auf das in Punkto Gewinnentwicklung relativ schwache 2013 richten. In der Summe sind deutsche Standardwerte immer noch günstig bewertet.“Auch die Kris€ in den Emerging Markets bereitet Stephan keine schlaflosen Nächte. ‚Abgesehen von der Türkei und Argentinien hat keines der Länder mit Leistungsbilanzdefizit Schulden im Ausland, die seine Devisenreserven übertreffen.“ Die „Deutsche“ bleibt bei 11.000 Punkten Der Vergleich mit 1997 und 1998 gehe fehl. Damals seien die Währungen stärker an den Dollar gekoppelt gewesen – mit ein Grund für die heftigen Kursturbulenzen. So betont der Deutsche.Bank-Stratege denn auch ausdrücklich, dass er an seinem Dax- Kursziel festhält: Ende des Jahres sieht er den Leitindex bei nicht weniger 11.000 Punkten.
Gemessen am jetzigen Stand wäre das noch mal ein Anstieg um knapp ein Fünftel. Doch genau hier liegt das Problem. Abgesehen von 2012 hat das deutsche Börsenbarometer seit der Finanzkrise jedes Jahr zugelegt. lm Jatu 2012 betrug das Plus 29 Prozent, im Jahr 2013 dann nochmal 25 Prozent.
„Der letzte Zyklus“
Nach solch starken Anstiegen ist irgendwann einmal die Luft raus. „In den vergangenen zwei Jahren ist der Dax von 5900 auf 9600 gekletterf‘, sagt Christian Kahler, Analytiker bei der DZ Bank. Es sei utopisch, dieses Tempo in die Zukunft fortzuschreiben. „Ein weiterer Anstieg um 50 oder 60 Prozent in den kommenden Jahren wäre fundamental nur gerechtfertigt, wenn auch die Unternehmensgewinne in ähnlichem Ausmaß steigen würden.“ Von der Vorstellung sollten sich Anleger jedoch verabschieden, und das ungeachtet der sich aufhellenden Wachstumsperspektiven der Weltwirtschaft- Investoren hätten in den letzten Jahren eine gute Ernte am Aktienmarkt eingefahren und sollten sich damit zufriedengeben. Oberwinter gibt sich lange noch nicht zufrieden. Er wisse selbst noch nicht, welche Faktoren den Dax auf über 20.000 Punkte katapultieren. Und er sei sich im Klaren, dass viele über solche Prognosen lachen und ungläubig den Kopf schütteln.
Es liege alles in den Zahlen: „Es ist der letzte Zyklus.“ Die Vergangenheit sei eben die Zukunft.
Zeitungsartikel Original siehe folgende Links:
Welt am Sonntag 09.02.2014 S.1
Welt am Sonntag 09.02.2014 S.2_0002